ZEIT ONLINE

2022-11-14 15:18:31 By : Ms. Mary Zheng

Wenn Frauen sich befreien, dann nicht nur von Machtstrukturen und Abhängigkeiten, sondern auch von manch unerwünschten Gegenständen. Sie tragen kein Korsett mehr und haben lange dafür gekämpft, sich von Haus und Herd entfernen zu können. Frauen im Iran legen das Kopftuch ab und schneiden sich ihre Haare ab – eine symbolische Geste für ihren Kampf um Freiheit. Zur Emanzipation gehört es, Dinge abzustreifen, die sinnbildlich für Unterdrückung stehen. Doch könnte man eine Geschichte der Frauen nicht auch ganz anders erzählen? Indem man etwa bei den Dingen ansetzt, die für Frauen wichtig waren und es immer noch sind?

Einhundert dieser Dinge hat Annabelle Hirsch gesammelt und sie in ein feines Netz aus Geschichten verwoben. Jeweils von einem rosa hinterlegten Abbild des Gegenstandes begleitet, kann man sich von einem verheilten Oberschenkelknochen um das Jahr 30.000 vor Christus bis zum Pussy Hat ins Jahr 2017 blättern. Hirsch hat diese teils belanglos wirkenden Gegenstände dem Vergessen enthoben, poliert und kuratiert. Plötzlich glänzen sie wieder und ermöglichen den Blick auf Zusammenhänge verschiedener Epochen. Das macht neugierig, hat man einmal begonnen, in dieser Schatzkiste der Dinge zu stöbern.

Was steckt etwa hinter einem genähten Ding aus Leder und Stoff, das auf den ersten Blick einem Kunstwerk von Louise Bourgeois ähnelt? Es verhalf vielen Kindern, das Licht der Welt zu erblicken. Und nebenbei trug es zur Bildung einer völlig neuen Berufsgruppe bei – die der Hebamme. Im 18. Jahrhunderten waren sowohl die Kinder- als auch Müttersterblichkeit in Europa hoch. Eine von vier Müttern verstarb aufgrund einer Geburt. Das lag nicht nur an mangelnder Hygiene, sondern auch daran, dass Helfende nicht genau wussten, was sie tun sollten. Oft übernahmen sie Handgriffe, die sie sich von anderen Frauen abgeschaut hatten.

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Um dem Sterben entgegenzuwirken, entstand in Europa erstmals ab den 1750er-Jahren so etwas wie eine Ausbildung für Geburtshelferinnen. Großen Anteil daran hatte eine Frau namens Angélique du Coudray. Sie tourte auch durch die ländlichen Regionen Frankreichs, um ihr Wissen mit den Frauen zu teilen. Sie hatte sowohl ihr selbst geschriebenes Handbuch als auch erwähntes Ding dabei. Es handelt sich um eine Nachbildung und stellt, so beschreibt es du Coudray, "den Unterleib einer Frau dar, ihren Uterus, ihre Bänder, die Vagina, die Blase und das Rektum. Ich fügte auch das Modell eines lebensgroßen Kindes bei." Wer möchte bezweifeln, dass dieses vielleicht erste detailgetreue Modell wichtig für die Menschen Europas war? Obwohl du Coudray also unzählige Frauen ausbildete, sie aufklärte und an dem Ding namens "La Machine" praktisch üben ließ, wurde die Geburtshilfe ab dem 19. Jahrhundert wieder von Männern dominiert.

Manche der von Hirsch kuratierten Gegenstände tauchen über den Verlauf der chronologischen Ordnung in immer neuen Kontexten auf. Obwohl sie für sich stehen können, verweisen sie aufeinander und darauf, dass vieles irgendwie zusammenhängt. Die phrygische Mütze etwa, klassischerweise mit einem Zipfel, der nach vorn umgeschlagen wird, trifft man in Die Dinge erstmals ums 5. Jahrhundert vor Christus an. Sie bedeckte das Haupt einer kleinen, aus Holz geschnitzten und splitternackten Amazonen-Puppe, die man einem Mädchen mit ins Grab gelegt hatte. In der antiken Mythologie sind die Amazonen starke Kriegerinnen, ein Inbegriff weiblicher Selbstbestimmtheit und Freiheit und damit das Gegenteil der Rolle, die Frauen im antiken Griechenland tatsächlich zugedacht war.

Die phrygische Mütze blieb ein Symbol der Unabhängigkeit. Im alten Rom wurde sie von befreiten Sklavinnen und Sklaven getragen. 108 Buchseiten später entdeckt man sie auf dem Kopf von Marianne. Wir sind nun in der Französischen Revolution angelangt. Auf einem berühmten Gemälde von Eugène Delacroix sieht man Marianne mit entblößter Brust, der französische Flagge in der einen, dem Gewehr in der anderen Hand. Marianne wurde zum Gesicht der Revolution. Doch die scheinbare Anlehnung an die Amazonen trügt. Obwohl Frauen einen Beitrag zur Revolution geleistet hatten, wurden sie später wieder aus der Öffentlichkeit verdrängt.

Auch im Pussy Hat sieht Hirsch eine Anlehnung an die phrygische Mütze. Mit dieser im Jahr 2017 vielfach aus pinkfarbener Wolle gestrickten Kopfbedeckung wendeten sich Frauen gegen ein misogynes Zitat Trumps. "Grab 'em by the pussy" hatte er 2016 gesagt und Frauen damit verdinglichen wollen. Es ist leider keine geschichtliche Ausnahme, dass Frauen wie Objekte besprochen werden. Sich wiederum ein tatsächliches Objekt aus Wolle auf den Kopf zu setzten und es stolz zu tragen, wie eine Krone, diente als Ermächtigung gegen diese Übergriffigkeit.

"Auch im Pussy Hat sieht Hirsch eine Anlehnung an die phrygische Mütze. Mit dieser im Jahr 2017 vielfach aus pinkfarbener Wolle gestrickten Kopfbedeckung wendeten sich Frauen gegen ein misogynes Zitat Trumps."

https://www.zeit.de/politik/… "Ich gehe nach Downtown, um die Frauen zu sehen. Was mir als Erstes auffällt: Es ist keine "Frauendemo", sondern eine "Linke-Frauen-Demo". Das hier sind Frauen und auch Männer, die Clinton gewählt haben und sauer sind, dass sie verloren haben. Eine bessere Bezeichnung hierfür wäre: "Verlierer-Demo." Wie viele das hier sind, kann ich nicht sagen, aber ich sehe mindestens eine Fantastillarde Plakate mit den Wörtern "Pussy", "Fuck" und "Vagina". Solche Wörter sieht man normalerweise nicht öffentlich auf amerikanischen Straßen – wir sind eine puritanische Nation –, aber heute ist das anders. Trump, wer und was der Mann auch sein mag, hat etwas bislang Unerreichtes geschafft: Millionen von uns die Maske vom Gesicht zu reißen, Menschen, die sich nach Vulgarität sehnen."

Das ist keine differenzierte Sicht, sondern eine komplett andere.

"Sich wiederum ein tatsächliches Objekt aus Wolle auf den Kopf zu setzten und es stolz zu tragen, wie eine Krone, diente als Ermächtigung gegen diese Übergriffigkeit."

Ich finde es gut, dass sich dabei Frauen generationsübergreifend solidarisieren.

Sogar die Frau, die auf dem Titelfoto rechts in ihrem Rollator sitzt, und ihre beiden etwa gleich alten Geschlechtsgenossinnen tragen stolz den Pussy Hat.

Hat es eine Bedeutung, dass die Abbildung der Gegenstände zart rosa hinterlegt sind?

Ja - wenn sie zartbläulich hinterlegt wären, hätten sie einen männlichen (Baby)Bezug. ;-)

Foto. Gebt denen endlich die Macht. Den Gegensatz von Emanzipation.

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